Willy 2018
Songtext
Mei Willy, jetzt is scho fast a hoibs Jahrhundert her, dass ich in meiner Verzweiflung und Wut dieses Lied über dich rausgschrien hab. A halbs Jahrhundert und ich hätt mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können damals, dass das heut wieder so erschreckend aktuell sein könnt.
Woasst os no Willy, damals 68 habn ma hauptsächlich die oidn Nazis aufspürn woiln, die immer no fett in ihre Vorstandsetagen oder in christlichsozialen Parteien ghockt san und den Herrn Frahm -unseren Willy Brandt – Vaterlandsverräter gschimpft habn, weil er eben koa Nazi gwesen is, da Willy.
Gestern habms an Willy derschlogn, und heit und heit und heit wird er begrobn.
Und heit?
Du werst as ned glaubn, Willy, du konnst as ned glaubn – heit drucka die neuen Nazis ins Parlament und erklären die unmenschlichste Epoche der Menschheitsgeschichte zu einem Vogelschiss in Anbetracht der 1000jährigen erfolgreichen Geschichte des deutschen Volkes.
Hähhh?
1000 Jahre deutsche Geschichte? Da sind dem Herrn Gauland wohl die Wahnvorstellungen seines Führers dazwischengekommen.
Was is passiert Willy? Wia hat des jemals soweit komma kenna?
Warn mia alle zu behäbig, zu eingeigelt in unser sattes Weltbild? In den Kokon unserer Selbstsicherheit, gute Demokraten zu sein?
Währenddessen hat sich der Kapitalismus wie ein Monster auf die Menschheit gestürzt um alle die zu verschlingen, die keine „Leistungsträger“ sein können oder wollen, nicht wirklich rücksichtslos genug sind, nicht wirklich ellbogig genug um alles niederzuwalzen was sich ihnen in den Erfolgsweg stellt.
Neoliberalismus heißt diese Monster, das es geschafft hat uns einzureden, dass wir all das aus freiem Willen tun, was das Monster mästet, was dieser Hydra immer wieder neue Köpfe wachsen lässt und damit einen kleinen Prozentsatz der Menschheit immer reicher und gieriger macht und alle anderen in tiefste Verunsicherung, Verarmung und Verzweiflung stürzt.
Was is passiert Willy???
Alle zwei Sekunden wird ein Mensch auf dieser unserer Erde zur Flucht gezwungen.
Einer von 110 Menschen weltweit ist von Flucht und Vertreibung betroffen.
Und neun von zehn Flüchtlingen leben in Entwicklungsländern.
Und vor was fliehen die denn wohl, Willy?
Du woaßt as: vor unsere Waffen, vor unseren Finanzspekulationen, vor unserer Ausbeutung der Erde, auf der sie leben!
„Wenn man sich die europäische Geschichte ansieht“, schreibt der von mir sehr geschätzte Philosoph Jürgen Wertheimer, „wirkt es weit eher so, als seien wir die Erfinder eines Perpetuum mobile der Kriege, die wir seit Jahrtausenden in allen Variationen durchdeklinierten.
Und in die Welt hinaustrugen.
Die europäische Kolonisation erfasste die gesamte Welt und stellt eine einzige „Grenzüberschreitung“ der Außengrenzen anderer Länder dar.
Und jetzt rufen ausgerechnet wir nach strikter Wahrung und Sicherung unserer Außengrenzen – nachdem wir über Jahrhunderte das Gefüge der Welt aus dem Lot gebracht haben… Bei all dem berufen wir uns gebetsmühlenartig auf unsere „christlich-abendländischen“ Werte – die nota bene allesamt orientalischer Herkunft sind. Jedenfalls wüsste ich nicht, dass die Bibel und das Neue Testament in Gelsenkirchen, Straßburg oder München geschrieben wurden.“
Was ist nur geschehen seit jener großartigen Bürgerbewegung der „Willkommenskultur“, die uns hoffen ließ, dass der Neoliberalismus doch nicht den letzten Rest von Mitgefühl aus den Herzen der Menschen verjagt hat? Ein eigentlich völlig selbstverständliches Mitgefühl für gejagte, verfolgte, hungernde, gepeinigte, verletzte Menschen, das nur psychisch völlig verrohten und gestörten Wesen nicht zueigen ist.
Gewissenlose Potentaten, die schnell die Chance erkannten, ihre bröckelnde Machtposition wieder zu festigen, schlugen erbarmungslos zu: mit Parolen und Fake News, mit vorgeschobener Bürgernähe und fahnenschwenkendem Unsinn. Sie wussten wohl, was für Ängste in den von einem gnadenlosen Kapitalismus verunsicherten BürgerInnen lauerten. Walter Benjamin entlarvte den Faschismus seinerzeit als Ästhetisierung der Politik. Als Reaktion auf die durch soziale Ungleichheit hervorgerufene Wut hat der Faschismus nicht nach politischen Lösungen gesucht wie etwa nach einer gerechteren Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen, sondern die Massen zu ihrem Ausdruck kommen lassen, und genau das, genau das passiert jetzt wieder, Willy. Und wer seine Identität nicht in seinem tiefsten Selbst wahrnehmen kann, sucht sich Identität bei „Identitären“. – in Volk, Nation und Vaterland.
Wir waren auf einem guten Weg, diesen gefährlichen, ja tödlichen Wahn zu besiegen. Haben wirs versaut???
Gaulands „Vogelschiss“ ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, das schon vorher bis zum Rand gefüllt war mit Herzlosigkeit und Verharmlosung der Nazi-Diktatur. Es wird Zeit, dass wir dafür sorgen, dass die braune Brühe nicht noch weitere Landstriche überschwemmt.
Gestern habms an Willy derschlogn, und heit und heit und heit und heit platzt ma der Kragn.
Vielleicht erscheint der Widerstand vielen sinnlos. Und mancher mag sich sagen: „Was kann ich denn schon tun, alleine, ohne Gleichgesinnte?“ Und denen gilt es nun Mut zu machen, denn die mit dem Herzen denken sind – und da bin ich mir sicher – immer noch in der Überzahl. Aber schrecklich verunsichert und vor allem: nicht annähernd so lautstark.
Nach wie vor glaube ich, dass eine spirituelle Revolution am Wachsen ist, und mir kommt dieses ganze Machogehabe verunsicherter Männlein wie Trump, Erdogan, Putin, Kim, Orban, Gauland, Strache, Söder, Seehofer wie sie alle heißen mögen wie das – hoffentlich! – letzte große, fast verzweifelte Aufbäumen des Patriarchats vor.
Nicht jeder, der jetzt begeistert den Neofaschisten, Identitären und Nationalisten hinterherhechelt ist ein Nazi. Aber: sie haben sich in ihrer zunehmenden Blindheit die Nazibrille aufsetzen lassen von den Höckes und Straches und Salvinis und Le Pens.
Lassen wir uns von ihnen nicht ins Bockshorn jagen. Lassen wir uns nicht verführen von den sogenannten „Führern“.
Widerstehen wir mit all dem, was uns als menschlichen Wesen gegeben ist an Mitgefühl und Verstand, Poesie und Zärtlichkeit!
Lassen wir uns nicht entmutigen! Deutschland weint, wenn Mexiko im Fußball gewinnt und schaut weg, wenn 600 Flüchtende im Meer ausharren und Italien die Häfen dicht macht.
Ich danke den Spaniern und den 2000 Helfern, die am Hafen von Valencia bereitstanden, um die Menschen aufzunehmen.
Und jeder einzelne von ihnen ist wertvoller für eine menschliche Gesellschaft als Ihr unmenschliches Taktieren, Herr Seehofer!
Gestern habns an Willy daschlagn, aber heit aber heit aber heit, aber heit halt ma zamm.
Gestern habns an Willy daschlagn, und heit und heit und heit ab heit halt ma zamm.
Musik und Text
Konstantin Wecker
Abdruckrechte
Sturm & Klang Musikverlag GmbH / Alisa Wessel Musikverlag
Erstveröffentlichung
Sage Nein – Antifaschistische Lieder 1978 bis heute
Weitere Veröffentlichungen