Willy 2021
Songtext
Mei Willy, wie oft hab ich jetzt, seit 1977 schon, mit dir geredet, immer wieder, wenn mich die Wut so packte, dass ich einfach nicht mehr schweigen konnte. Dass ich alles rausbrüllen musste.
1990, als sich in Eberswalde Neonazis zu einer rassistischen Hetzjagd versammelten und den Angolaner Amadeu Antonio aus purer Mordlust totgetrampelt hatten. Seine Mörder kamen mit geringen Haftstrafen wegen „Körperverletzung mit Todesfolge“ davon.
2015 wegen Pegida und 2018 wegen der Nazis im Parlament und einem gewissen Herrn Gauland, der den Nationalsozialismus als „Vogelschiss der Geschichte“ abzutun versuchte.
Und viele Male mehr hab ich dir, mein Freund, zu erzählen versucht, dass dein schreckliches Erlebnis mit Nazis leider kein Einzelschicksal war.
Und jetzt jährt sich ein schier unfassbares Verbrechen:
Ein 43-jähriger Faschist ermordete in Hanau am 19. Februar 2020 neun Menschen!
Der aktenkundige Rassist, der von der Vernichtung ganzer Völker träumte, hatte von den Behörden trotzdem mehrere Waffenbesitzkarten ausgestellt bekommen. Er durfte als Sportschütze das Schießen lernen, und dann erschoss er vor und in drei Bars neun Menschen.
Einer von ihnen hieß Vili, Vili-Viorel Paun, er war grad mal 22 Jahre alt. Und der einzige Sohn seiner Eltern.
Und Willy, ich bin mir sicher: Wir zwei oiden 68er hätten uns mit diesem jungen Vili gut verstanden. Er stand auf Musik und liebte Jimi Hendrix. Auch er liebte die Natur, hatte Ausdauer und wollte alles, was er angefangen hat, möglichst gut machen – auch wenn es länger dauerte. Und vor allem Vili hatte ein gutes Herz und er war mutig, so wie du, wenn es darum ging, gegen Unrecht zu handeln.
Dieser unfassbar mutige junge Mann wollte den Rassisten stoppen, rief die Polizei und kam nicht durch, blockierte mit seinem eigenen Auto den Wagen des Täters, musste vermutlich den Weg frei machen als der ihn mit der Waffe bedrohte. Vili raste ihm dennoch hinterher, rief erneut zwei Mal die Polizei an, doch niemand nahm ab. Dann wurde Vili vom Täter auf einem Parkplatz in Kesselstadt ausgebremst und von ihm mit drei Schüssen hingerichtet. Anschließend ermordete der Rassist weitere fünf Menschen und verletzte andere schwer.
Ein mangelnder Aufklärungswille der Behörden ist auch ein Jahr nach den Morden offensichtlich.
Vili folgte seinen Eltern erst 2016 nach seinem Schulabschluss und seiner Ausbildung als Lebensmitteltechniker aus Rumänien nach Hanau. Sein Vater Niculescu Paun sagte:
„Er hat alles verloren. Hat sein Leben verloren, hat seine Zukunft verloren. Hat seine Pläne verloren. Ich weine – I’m crying – um seine Zukunft, um seine Liebe.”
Wir weinen mit ihm und um alle Opfer dieses rassistischen Massakers.
Sakrament, Vili! Warst an diesem verfluchten Februartag bloß aufm Mond gwesn oder aufm Amazonas in einem Einbaum oder ganz alloa aufm Gipfel einer deiner geliebten Berge, drei Schritt vom Himme weg, überall, bloß ned an diesm unselign Ort mitten in Hanau!
Wir hättn dich doch no so braucht, wir alle brauchen doch solche, wias du oana bist!
GESTERN HABNS AN WILLY DASCHLOGN UND HEIT UND HEIT UND HEIT UND HEIT WIRD A BEGROBN.
GESTERN HABNS AN WILLY DASCHLOGN UND HEIT UND HEIT UND HEIT WIRD A BEGROBN.
Was müssen wir alle tun, um in diesen gefährlichen Zeiten die Wiederholung solcher rassistischer Schreckenstaten zu verhindern?
Willy – so was darf nie wieder passieren und es liegt an uns, uns zu wehren.
Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen, ein Verbrechen, das wir bis heute gemeinsam immer und überall bekämpfen müssen.
Und ich kann die Worte des Bedauerns, die Worte der Betroffenheit von Politikern und Politikerinnen nicht mehr ertragen. Ob 40 Jahre nach den antisemitischen Morden von Erlangen 1980, ob nach der Mordserie des NSU, ob nach Halle 2019 oder Hanau 2020 – wann folgen ihren Worten Taten? Zum Beispiel gegen den NSU 2.0 und seine Helfer in der hessischen Polizei?
Willy, du weißt es, du hast es uns vorgelebt: Wirkliche Demokratie muss lebendig sein, man darf sich nicht zurücklehnen mit dem sicheren Gefühl, nun Demokrat zu sein.
Demokratie ist ein lebendiger Prozess und ein Ideal, an dem man immer wieder hart arbeiten muss, und man darf dabei die utopische Sehnsucht nach einem Zusammenleben in einer Ordnung ohne Herrschaft nie verlieren.
Schon seit tausenden von Jahren träumt die Menschheit von einem gleichberechtigten Miteinander ohne Machtstreben, ohne Unterdrückung, ohne Gehorsam.
Konnte man die patriarchalen Gesellschaftssysteme nur dadurch aufrechterhalten, dass systematisch und immer wieder alle anderen Versuche für verrückt erklärt, dämonisiert und im harmlosesten Fall ins Lächerliche gezogen wurden? Wie verrückt muss eine Menschheit gemacht werden, damit sie glaubt, dass ein System wie der Kapitalismus, das ausschließlich einigen Wenigen zu einem oft obszönen Wohlstand verhilft, allen Menschen und eben auch den Armen und Ärmsten dieser Erde dienlich sei?
GESTERN HABNS AN WILLY DASCHLOGN UND HEIT UND HEIT UND HEIT – UND HEIT…
Wir müssen aus der Geschichte endlich lernen. Mit der Sesshaftigkeit kam die Geilheit nach Besitz, und das patriarchale Machtstreben überflutete wie ein Tsunami die Welt. Der „ewige Faschismus“, wie Umberto Eco ihn so treffend nennt, begann sich in verschiedensten Spielarten breit zu machen. Einzig die Kultur konnte uns immer wieder Einhalt gebieten, zur Besinnung bringen, unseren uralten Träumen Melodien verleihen. Wir müssen wieder neu zu träumen lernen, indem wir unseren Traum leben.
Der Neoliberalismus ist am Ende. Und er weiß es nur noch nicht. Und ich habe die wirkliche Hoffnung, dass uns dieses Virus einst zusammenschweißen wird. Corona kann eine Wende sein hin zu mehr Solidarität und Menschlichkeit. Zu Utopia.
Wie schreibt doch Oskar Wilde so treffend:
„Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick, denn sie lässt eine Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird. Und wenn die Menschheit da angelangt ist, hält sie Umschau nach einem besseren Land und richtet ihre Segel dahin. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.“
Ja, Willy, und ihr liebe Freundinnen und Freunde, richten wir unsere Segel nach einem besseren Land. Einem Land ohne Herrscher und Patriarchen, ein Land in dem gestritten und gelacht werden wird, in dem allen ein menschenwürdiges Grundeinkommen zugesichert ist und keine und keiner unterdrückt und gedemütigt wird.
Nein kein Land. Eine Welt. Es ist eine grenzenlose Welt, in der ich leben will.
GESTERN HABNS AN WILLY DASCHLOGN UND HEIT UND HEIT UND HEIT AB HEIT HALT MA ZAMM!
GESTERN HABNS AN WILLY DASCHLOGN UND AB HEIT AB HEIT AB HEIT AB HEIT HALT MA ZAMM!
Musik und Text
Konstantin Wecker
Abdruckrechte
Sturm & Klang Musikverlag GmbH / Alisa Wessel Musikverlag
Erstveröffentlichung
Weitere Veröffentlichungen